Vor einiger Zeit hat Julia Reda, Piratin und Mitglied der grünen Fraktion im Europäischen Parlament, den Fokus der Öffentlichkeit auf den Vertrag von Marrakesch gelenkt, einem Vertrag, der das Ziel verfolgt, Menschen mit Sehbehinderung den Zugang zu Wissen zu erleichtern.

Hier findet Ihr eine Zusammenfassung zum Vertrag von Marrakesch. Der Vertrag wurde im Juni 2013 abgeschlossen, wartet aber noch immer auf seine Ratifizierung. Damit dieser in Kraft tritt, müssen zwanzig der insgesamt 79 Verhandlungspartner den Vertrag ratifizieren. Bisher haben jedoch erst 16 Länder ratifiziert. Sowohl Deutschland als auch die EU fehlen noch.

Gerade der Europäischen Union kommt eine ganz entscheidende Rolle zu, wenn es darum geht, den Zugang zu Wissen für sehbehinderte Menschen zu verbessern. Es ist unverständlich, dass die EU und die Mitgliedsstaaten den Vertrag von Marrakesch zwar im April 2014 unterzeichnet und sich politisch verpflichtet haben, den Vertrag zu ratifizieren, dies aber nicht tun. Julia kommt zu folgendem Fazit:

„Die deutsche Bundesregierung spielt aktuell eine federführende Rolle dabei, Menschen mit Sehbehinderungen ohne guten Grund den dringend benötigten Zugang zu Wissen und Kultur zu versperren.“

Julia verweist auf eine Resolution des EP, in der das Parlament die Mitgliedsstaaten auffordert, ihre Blockadehaltung bezüglich des Beitritts zum Vertrag aufzugeben. In der Resolution heißt es, das Parlament sei „zutiefst entrüstet darüber, dass sieben EU‑Mitgliedstaaten eine Minderheit gebildet haben, die den Prozess der Ratifizierung des Vertrags blockiert“. Rat und die Mitgliedstaaten werden in der Resolution aufgefordert, den Ratifizierungsprozess zu beschleunigen.

Unter den sieben Mitgliedsstaaten, die eine Ratifizierung derzeit blockieren, befindet sich auch die Bundesrepublik Deutschland. Als Grund für die Verzögerung macht Julia einen enormen Lobbydruck aus. Dieser habe dazu geführt, dass das Vertragswerk erst nach fünfjähriger Bearbeitungszeit vorgelegt und bis dahin wiederholt verwässert wurde, so dass sich der letztendlich vorliegende Vertrag beispielsweise nur noch auf sehbehinderte, nicht aber auf gehörlose Menschen beziehe.

Die bereits erwähnte Sperrminorität im Rat, angeführt von der Bundesregierung, blockiert die Ratifizierung. Als offizielle Begründung wird angeführt, dass der EU die Kompetenz fehle, die Mitgliedsstaaten bei der Ratifizierung zu vertreten. Zu einem explizit anderen Schluss, der von den meisten Mitgliedsstaaten geteilt wird, kommen jedoch die juristischen Dienste der Kommission, des Parlaments und des Rates. Mittlerweile liegt der Vorgang beim europäischen Gerichtshof.

Vom Urteil des Gerichts hängt ab, ob die EU den Vertrag für die Mitgliedsstaaten ratifizieren kann oder nicht – und wie lange es noch dauert, bis Menschen mit Sehbehinderung ein verbesserten Zugang zu Wissen ermöglicht wird. Letztendlich wird auf ihrem Rücken heute also ein Kampf um Zuständigkeiten ausgetragen, bei dem die deutsche Bundesregierung eine mehr als unrühmliche Rolle spielt.

Um den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen, habe ich eine schriftliche Frage zum Vertrag von Marrakesch an die Bundesregierung gerichtet. Hier meine Frage im Wortlaut:

„Welche Gründe haben dazu geführt, dass die Bundesrepublik Deutschland auch drei Jahre nach dem Abschluss und trotz wiederholter Ankündigung (vgl. Pressemittelung des BMJV vom 14. Mai 2014), den Vertrag von Marrakesch zur Erleichterung des Zugangs blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen zu veröffentlichten Werken bis heute nicht ratifiziert hat und wann wird die Bundesregierung, sowohl vor dem Hintergrund der deutlichen Kritik der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Verena Bentele, als auch einer kürzlich gefassten Entschließung des Europäischen Parlaments, welche die Mitgliedsstaaten noch einmal auffordert, die Ratifizierung vorzunehmen, dies tun?“

Vor kurzem erhielt ich nun die Antwort der Bundesregierung, genauer des Justizministeriums:

„Die Bundesregierung möchte, dass Deutschland den Vertrag von Marrakesch zugunsten blin­der, sehbehinderter oder sonst lesebehinderter Menschen gemeinsam mit der Europäischen Union und allen anderen Mitgliedstaaten ratifiziert. Insoweit unterstützt es die Bundes­regierung, dass eine zeitnahe Ratifizierung (auch) durch die Mitgliedstaaten gewünscht wird; ebenso von der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Frau Verena Bentele. Allerdings beansprucht die Europäische Kommission die ausschließliche Kom­petenz für die Ratifizierung des Vertrags. Dadurch sind Deutschland, das den Vertrag am 20. Juni 2014 in Genf unterzeichnet hat, und die anderen Mitgliedstaaten derzeit gehindert, den Vertrag eigenständig zu ratifizieren. Die Europäische Kommission hat sich im Juli 2015 ent­schieden, diese Kompetenzfrage durch ein Gutachten des Europäischen Gerichtshofs klären zu lassen. Dieses Gutachten könnte bis Ende des Jahres 2016 vorliegen. Der genaue Zeitpunkt der Veröffentlichung des Gutachtens durch den Europäischen Gerichtshof ist jedoch noch offen.

Dessen ungeachtet hatte der Rat die Europäische Kommission aufgefordert, einen Entwurf zur Umsetzung des Vertrags von Marrakesch vorzulegen, um möglichst bald mit der Beratung der inhaltlichen Fragen zu beginnen. Denn die Umsetzung des Vertrags erfordert — unabhängig von der Kompetenzfrage im Hinblick auf den Abschluss des Vertrags — in jedem Fall ein koordinier­tes Vorgehen in der Europäischen Union, insbesondere hinsichtlich des grenzüberschreitenden Austauschs barrierefreier Formate. Einen solchen Vorschlag hat die insoweit federführende Europäische Kommission bislang allerdings nicht vorgelegt. Gegenwärtig ist ein solcher Vor­schlag für Sommer 2016 angekündigt.

Die Bundesregierung ist bereit, jederzeit die auf Unionsebene erforderlichen fachlichen Bera­tungen zur Umsetzung des Vertrags aufzunehmen, sobald die Europäische Kommission auf­grund ihres Initiativrechts einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet hat. Blinde, seh­behinderte oder sonst lesebehinderte Menschen können erst dann erweiterte Rechte erhalten, wenn die einschlägigen unionsrechtlichen und nationalen Regelungen inhaltlich angepasst wor­den sind.

Im Übrigen würde der Vertrag auf internationaler Ebene schneller in Kraft treten, wenn — ent­sprechend dem Wunsch Deutschlands — alle Mitgliedstaaten den Vertrag neben der Europäi­schen Union ratifizieren könnten. Denn der Vertrag tritt erst in Kraft, wenn ihn 20 Vertragsparteien ratifiziert haben. Bislang liegen 15 Ratifikationen, jeweils von Nicht-EU-Staaten, vor. Eine Ratifikation durch die Europäische Union in ausschließlicher Zuständigkeit würde lediglich eine zusätzliche Ratifikationsstimme erbringen. Bei einer gemeinsamen Ratifikation durch die Euro­päische Union und die Mitgliedstaaten könnte die Europäische Union als Gemeinschaft 28 + 1 Ratifikationsstimmen beitragen und dem Vertrag damit schneller Wirksamkeit verschaffen.“

Bewertung der Antwort der Bundesregierung:

Schon der umfassende Verweis auf den derzeitigen Verhandlungsstand durch die Bundesregierung macht deutlich, dass man sich der politischen Brisanz und dem großen öffentlichen Interesse bewusst ist. Gleichzeitig wird klar, dass es tatsächlich um eine – auf dem Rücken sehbehinderter Menschen ausgetragene – Kompetenzstreitigkeit zwischen EU-Kommission und Mitgliedsstaaten geht. In ihrer Antwort verweist die Bundesregierung darauf, dass der Rat die Europäische Kommission aufgefordert hat, einen Entwurf zur Umsetzung des Vertrags von Marrakesch vorzulegen, um möglichst bald mit der Beratung der inhaltlichen Fragen zu beginnen und die Kommission diesen Entwurf erst für Sommer 2016 in Aussicht gestellt hat. Kürzlich hat man diesen Termin sogar auf Herbst 2016 verschoben. Natürlich hat die Bundesregierung Recht, wenn sie darauf verweist, dass es gut wäre, wenn neben der Ratifizierung bereits an der konkreten Umsetzung des Vertrags gearbeitet würde. Allerdings ist es schon ein Stück weit verwunderlich, wenn ausgerechnet derjenige, der die rasche Ratifizierung durch die EU bislang verhindert, sich – zumindest rhetorisch – für eine möglichst schnelle Umsetzung des nicht ratifizierten Vertrags einsetzt. Dass die Bundesregierung bereit ist, sich an den anstehenden fachlichen Beratungen auf Unionsebene zu beteiligen ist eine absolute Selbstverständlichkeit.

Zur Frage, ob es besser ist, wenn die EU in Gänze oder die Mitgliedsstaaten einzeln den Vertrag ratifizieren, kann man zumindest folgendes festhalten: Der Marrakeschvertrag erlaubt nicht nur die Herstellung barrierefreier Kopien, sondern auch deren Austausch zwischen den Mitgliedstaaten. Es bringt also insofern wenig, wenn durch ein einzelnes Ratifizieren der Mitgliedstaaten der Vertrag zwar vielleicht etwas schneller in Kraft treten würde, es dafür aber umso länger dauert, bis alle Mitgliedstaaten ratifiziert haben. Es gibt in der EU viele Sprachen, die auf der ganzen Welt gesprochen werden (insbesondere Französisch, Englisch und Spanisch) und die Verfügbarkeit barrierefreier Bücher ist in der EU sehr viel besser als in vielen anderen Regionen der Welt, die auch zu den Vertragsparteien gehören. Wenn die EU in Gänze ratifiziert, sind bei Inkraftreten des Vertrags auf einen Schlag alle barrierefreien Bücher aus der EU in all diesen Regionen verfügbar. Wenn die Mitgliedstaaten einzeln ratifizieren, wird es hingegen absehbar noch länger dauern, bis tatsächlich alle Mitgliedstaaten den Vertrag ratifiziert haben. Darunter leiden die anderen Vertragsparteien, weil es länger dauert, bis alle barrierefreien Bücher europäischer Institutionen ausgetauscht werden können.

Ich fordere Bundesregierung und Kommission auf, ihre Kompetenzstreitigkeiten, im Zuge derer derzeit Millionen sehbehinderter Menschen in Geiselhaft genommen werden, schnellstmöglich zu beenden. Sowohl Kommission als auch Bundesregierung sollten alles daran setzen, dass Sehbehinderten baldmöglichst der lange in Aussicht gestellte, verbesserte Zugang zu Wissen auch tatsächlich ermöglicht wird. Alles andere würde sowohl auf Kommission als auch auf Mitgliedsstaaten böse zurückfallen und ihrem Ansehen massiv schaden.

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