Ist der deutsche Rechtsstaat ein kranker Patient? Mit dieser Frage eröffnete die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt die 5. Netzpolitische Soirée. In Anbetracht des Aufklärungsphlegmas der Bundesregierung scheint es um den Rechtsstaat und die Rechte des Parlaments in Zeiten der Großen Koalition nicht gut bestellt: Akten werden verzögert, unvollständig und weitgehend geschwärzt an den Untersuchungsausschuss geliefert. Darüber hinaus werden ganze Aktenreihen gleich gar nicht übersendet oder pauschal als geheim eingestuft. Dem Schlüsselzeugen Edward Snowden wird die Aussage vor dem Parlamentarischen Untersuchugsausschuss bis heute nicht ermöglicht und den Parlamentariern unverhohlen Drohbriefe auf Grundlage ominöser Rechtsgutachten von US-Rechtsanwaltskanzleien geschickt.

Trotz all dieser Widrigkeiten hat der Parlamentarische Untersuchungsausschuss schon viel zu Tage gefördert und die grüne Arbeitsthese bestätigt: Die Große Koalition und die Bundesregierung verschleppen, verschlampen und verhindern die Aufklärung dieses Skandals seit mehr als einem Jahr nur aus einem Grund: Die deutschen Geheimdienste und die Bundesregierung stecken selbst tief in der Affäre. Die Bundesregierung und Kanzlerin Merkel sind eben nicht Opfer, sondern selbst handelnde Akteure. So wussten man von Anfang an um die Machenschaften des US-Geheimdienstes NSA und kooperierte sehr eng. Während man sich öffentlich über das Abhören des Kanzlerinnen-Handys echauffierte, unternahm man keinerlei tatsächlichen Anstrengungen zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger, ihrer Kommunikation und unserer digitalen Infrastrukturen. Genauso unternahm die Bundesregierung nichts, um deutsche Unternehmen effektiv vor Spionage zu schützen. Ein No-Spy-Abkommen wird es absehbar nie geben.

Katrin Göring-Eckardt erinnerte noch einmal daran, worum es im Kern geht: Wenn wir Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Privatheit nicht zurück erkämpfen, droht die wichtigste Errungenschaft unseres Rechtsstaates in repressiver Überwachung unterzugehen, unsere Freiheit!

KONTROLLE DER GEHEIMDIENSTE IST KEINE KULTURFRAGE

Die Veranstalter und die circa 230 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zollten Peter Altmaier, Chef des Bundeskanzleramtes, durchaus Respekt dafür, dass er sich der öffentlichen Diskussion stellte. Mit vielen seiner Ausführungen konnte Altmaier aber den Saal nicht zufriedenstellen. Den Umgang mit Geheimdienstpraktiken in den USA und Deutschland, mit Kontrolle und Transparenz stufte er als „Kulturfrage“ ein. Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Club, und Konstantin von Notz, Obmann im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, verwehrten sich gegen diese Ansicht. Konstantin von Notz verwies darauf, dass renommierte Verfassungsrechtler wie der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, die Praktiken der deutschen Dienste für rechtlich durchaus äußerst bedenklich halten und während einer denkwürdigen Anhörung des Untersuchungsausschuss zwingende gesetzliche Klarstellungen anmahnten.

Einen solchen Reformbedarf sah Peter Altmaier nicht. So gäbe es durchaus auch Verfassungsrechtler, die keine Bedenken bezüglich der festgestellten Praktiken sähen. Auf die konkrete Nachfrage, ob er nur einen Verfassungsrechtler nennen könne, der diese Meinung vertritt, hatte der Chef des Kanzleramts jedoch keinen Namen parat. Auch hinsichtlich des massenhaften Abgriffs von Daten am größten deutschen Internetknotenpunkt in Frankfurt durch den BND, konnte Peter Altmaier nicht bestätigen, dass diese rechtlich einwandfrei ablaufen.

Ebenfalls musste der Kanzleramtsminister einräumen, dass Verstöße gegen deutsche und europäische Interessen durch die sogenannten NSA-Selektoren, die durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss überhaupt erst aufgedeckt wurden, durchaus „erheblich und bedeutsam“ seien. Konstantin von Notz wies darauf hin, dass den Parlamentariern bis heute die Einsicht in diese Selektorenliste durch die Bundesregierung verwehrt werde. Stattdessen benannten die Regierungsparteien eine „Vertrauensperson“. Gegen diese Beschneidung der Rechte des Parlaments hat die grüne Bundestagsfraktion gerade Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.

GESETZGEBERISCHE KONSEQUENZEN DER GROKO BLEIBEN AUS

Konstantin von Notz unterstrich, dass die Bundesregierung bis heute keine ernstzunehmende Versuche unternommen habe, die Tätigkeiten der Geheimdienste auf eine rechtsstaatliche und grundrechtewahrende Grundlage zu stellen. Stattdessen würden die Kapazitäten der deutschen Dienste im Wettrüsten mit ausländischen Diensten auf rechtlich tönernden Füßen weiter ausgebaut, eine öffentliche Diskussion verunmöglicht und der ewige Zombie der Sicherheitspolitik, die Vorratsdatenspeicherung, gegen alle Bedenken wieder aus der Mottenkiste gekramt. Ein Moratorium für die offen rechtswidrige Massenüberwachung und rechtlich äußerst fragwürdige Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten sei überfällig.

Constanze Kurz betonte eine deutliche Schieflage der Diskussionen und tatsächlichen Handlungen seit den ersten Enthüllungen von Edward Snowden vor nunmehr mehr als zwei Jahren. Statt rechtlicher Ermittlungen durch den Generalbundesanwalt, würde Journalisten die zur Aufklärung beitragen, mit Landesverrat gedroht. Die Bundesregierung müsse sich ernsthaft fragen, ob sie sich von dem Gedanken leiten lassen wolle, dass alles, was technisch möglich sei und sich gerade noch im Rahmen des rechtlich zulässigen bewege, auch tatsächlich umgesetzt werden sollte. Es sei geradezu skandalös, dass gut zwei Jahre nach den ersten Enthüllungen Edward Snowdens, die Bundesregierung noch immer mit aller Macht versuche, die anlasslose digitale Massenüberwachung auszubauen. Die Moderatorin Anna Sauerbrey fasste Peter Altmaiers Ausführungen dann am Ende der Veranstaltung zusammen: „Der BND, er bemühte sich stets.“

NOTZ: MÜSSEN RECHTSSTAATLICHE KONTROLLE ÜBER GEHEIMDIENSTE ZURÜCKKÄMPFEN

Konstantin von Notz hielt abschließend fest, dass dies für einen Rechtsstaat nicht ausreiche. Vielmehr sei es Aufgabe des Untersuchungsausschuss, des Parlaments und der Bundesregierung, die Geheimdienste wieder zurück auf den Boden des Rechtsstaats zu holen. Eine öffentliche gesellschaftliche Debatte über die Befugnisse der Dienste im Digitalen müsse dringend geführt, die Befugnisse kritisch hinterfragt und die parlamentarische Kontrolle zwingen verbessert werden. Dafür würde sich die grüne Bundestagsfraktion auch weiter vehement einsetzen.

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