In unregelmäßigen Abständen berichten wir in unserer Rubrik “Aus den Ländern” über Initiativen, Veranstaltungen und Debatten aus dem Bereich Innen- und Netzpolitik in den Bundesländern. Ebenso schreiben ab und an Vertreter aus den Ländern über aktuelle Initiativen. An dieser Stelle hat Johannes Lichdi einen Gastbeitrag verfasst, in dem er über seine Bemühungen berichtet, die derzeitige Praxis der Funkzellenauswertung zu beenden. Der Text wurde zuerst auf staatsschauspiel-dresden.de veröffentlicht.

Wie sich die Polizei geheimdienstlicher Methoden bedient

 
von Johannes Lichdi

Ein Vergleich der Dresdner Funkzellenabfrage mit anschließender Rasterfahndung und Identifizierung tausender Personen mit den Methoden der Stasi oder NSA wird heftigen Widerspruch ernten. Denn wie darf die polizeiliche Verfolgung schwerer Straftaten in einer rechtsstaatlichen Demokratie mit der Bespitzelung der Stasi im Unrechtsstaat DDR verglichen werden? Die kategorialen Entgegensetzungen „Demokratie oder Diktatur“ und „Rechtsstaat oder Unrechtsstaat“ wirken wie eine gedankliche und emotionale Barriere. Nimmt man aber den grundgesetzlichen Freiheitsanspruch ernst, ist Überwachung aus den Erfahrungen ihrer Opfer zu kennzeichnen und bewerten – und  nicht wie üblich aus der Vogelperspektive ihrer Überwacher und deren jeweiligen Rechtfertigungszusammenhängen.

1. Ausmaße der Ausspähung

Die Polizei hat zur Aufklärung von Landfriedensbrüchen bei den Anti-Nazi-Protesten in der Dresdner Südvorstadt am 19. Februar 2011 sowie zur Ermittlung einer „kriminellen Vereinigung“ nach Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Amtsgerichts Dresden aus 19 Funkzellen über 1,1 Millionen Verkehrsdaten erhoben.1 Verkehrsdaten lassen erkennen, welche Telefonnummern wann in jeweils welcher Funkzelle miteinander verbunden waren. Inhalte werden nicht erfasst. Die Polizei hat diese Verkehrsdaten mit einer Auswertungssoftware und mit Verkehrsdaten aus anderen Funkzellenabfragen abgeglichen, um Kommunikationsprofile zu erstellen. Sie hat fast 56.000 Bestandsdaten bei den Telefonunternehmen abgefragt, also die Namen der Anschlussinhaberinnen der Mobilfunkgeräte sowie deren Geburtstag und Adresse. Die Erfassung zehntausender Unverdächtiger hat – soweit bekannt – bisher nicht zur Überführung irgendeines Straftäters geführt. Der Sächsische Datenschutzbeauftragte hält das Vorgehen der Polizei für rechtswidrig. Leider hat das Landgericht Dresden einen Amtsgerichtsbeschluss nur aus formalen Gründen, aber nicht in der Sache für rechtswidrig erklärt. Inzwischen sind mehrere Verfassungsbeschwerden beim Karlsruher Bundesverfassungsgericht anhängig.

Obwohl der sächsische Innenminister Ulbig die Auskunft zum Umfang von Funkzellenabfragen verweigert, sprechen zahlreiche Anhaltspunkte für eine häufige Anwendung dieser Ermittlungsmethode. Offenbar werden bei zahlreichen Demonstrationen und Fußballspielen Funkzellen für die Tatzeit rund um den Tatort angezapft. Die Polizei umgeht so das Verbot der Vorratsdatenspeicherung. In Berlin wurden allein im Jahr 2013 ca. 50 Millionen Verkehrsdaten erfasst!2 Dennoch sind die Funkzellenauswertungen verglichen mit der Totalerfassung sämtlicher elektronischer Datenspuren durch die NSA nicht mehr als Kleckerkram. Die amerikanischen Geheimdienste nehmen sich das „Recht“ heraus, die Datenspuren der ganzen Welt auszuspähen.3 Eine Totalüberwachung, die man totalitären Diktaturen vorbehalten glaubte, findet auch in westlichen Demokratien statt, die sich selbst für das Vorbild für den Rest der Welt halten.

2. Der geheime automatisierte Zugriff auf Datenspuren

Die Praxis der massenhaften automatisierten Verkehrsdatenauswertung markiert die Übernahme  geheimdienstlicher Denkmuster und Methoden in das Repertoire polizeilicher Ermittlungsmethoden. Stasi, NSA oder der sogenannte „Verfassungsschutz“ haben sich nie mit der Frage aufgehalten, ob denn die Menschen, die Objekte ihrer Ausspähung und „Bearbeitung“ sind, Straftaten begangen haben. Die innerstaatliche Feinderklärung als „feindlich-negative Kräfte“, „Terrorverdächtige“ oder „Extremist“ genügt für die massivsten Eingriffe. Auch die Polizei mutet den Bürgerinnen und Bürgern zu, die Auswertung der eigenen Verkehrsdaten zu dulden, als ob es sich nicht um einen Grundrechtseingriff, sondern eine selbstverständliche Bürgerpflicht handelte. Die Funkzellenauswertung trifft aber zu 99% Unschuldige, deren Daten ausgewertet werden, um einen Verdacht gegen eine bestimmte Person erst zu schöpfen.

Die automatisierte massenhafte Auswertung der Datenspuren ist erst mit den technischen Entwicklungen der digitalen Revolution möglich geworden. Die Stasi hat zwar wie andere Geheimdienste abgehört, aber doch individuell gerichtet: Wir stellen uns den einsamen Stasi-Offizier auf dem Dachboden vor, Kopfhörer auf den Ohren, wie er „das Leben der Anderen“ erlauscht. Die Stasi hat ihre Informationen aber wesentlich durch die Berichte ihrer Spitzel („Inoffizielle Mitarbeiter“) erhalten.4 Die systematische Erfassung und Auswertung elektronischer Datenspuren durch die NSA kennzeichnet einen Quantensprung im Verhältnis des Überwachers zu seinem Opfer: Der Stasi-Spitzel beging noch einen Vertrauensbruch, ohne auch nur entfernt eine vergleichbare Informationsdichte wie bei der digitalen Ausspähung erheben zu können. Der Entwickler von Schadsoftware oder der Auswertungsexperte der NSA kennen wie der Bomberpilot oder Drohnen-Operator ihre Opfer nicht mehr. So führen die technischen Möglichkeiten der digitalen Revolution wie im Krieg zur Anonymisierung der Opfer und zur Enthemmung der Überwacher.

3. Unsere Freiheit im digitalen Käfig

Die Praxis der Geheimdienste und zunehmend der Polizei entfernt sich mit Siebenmeilenstiefeln von dem grundrechtlichen Anspruch, den das Bundesverfassungsgericht 1983 in seinem Volkszählungsurteil formuliert hatte: nämlich dass jede jederzeit über die Erfassung und Verwendung ihrer Daten selbst entscheiden können müsse. Die Kommunikationsfreiheit nach Artikel 10 des Grundgesetzes soll zwar die „Bedingungen einer freien Telekommunikation aufrechterhalten“.5 Doch wirken die Appelle und Urteile des Bundesverfassungsgerichts angesichts der Totalität des Zugriffs der NSA wie aus dem Postkutschenzeitalter. Nach allem, was wir heute wissen, ist nicht Vertrauen, sondern Misstrauen in die „freie Telekommunikation“ gerechtfertigt. Dies hat Folgen: Der Sächsische Datenschutzbeauftragte teilt in seinem Bericht zu den Dresdner Funkzellenabfragen mit, dass „der Einschüchterungseffekt staatlichen Handelns durchaus präsent“ sei.6 Das Bundesverfassungsgericht geht einen Schritt weiter: Da Grundrechtseingriffe wie die Funkzellenauswertung die Bürgerinnen und Bürger einschüchtere und abschrecke, ihre Grundrechte zu gebrauchen, würde zugleich deren Fähigkeit zur Mitwirkung an der demokratischen Gesellschaft als „elementare Funktionsbedingung“ der freiheitlich-demokratischen Grundordnung beschädigt – und damit die Demokratie selbst!7

Die digitale Revolution zwingt uns immer unentrinnbarer auf, Datenspuren unserer Lebensäußerungen zu hinterlassen, die in Kommunikations-, Bewegungs- und Sozialprofilen rekonstruierbar werden. Die totale Überwachung unserer Datenspuren sperrt den gleichsam zur Laborratte herabgewürdigten Menschen in einen digitalen Käfig. Die Kontrolldichte im digitalen Käfig kann in der analogen Welt nur mit der Kontrolldichte eines Gefängnisses oder Lagers verglichen werden. Den bestehenden gesellschaftlichen Machtstrukturen entsprechend nutzen Konzerne, Militär, Geheimdienste und Polizei die Möglichkeiten eines totalen Zugriffs auf unsere Datenspuren für ihre Interessen. Diese Interessen laufen aber denen einer demokratischen Gesellschaft auf Transparenz, Freiheit und demokratisch legitimierte Steuerung gesellschaftlicher Prozesse zuwider. Es ist eine Illusion zu glauben, unsere Freiheit sei schon deshalb in guten Händen, weil wir unsere Regierungen frei gewählt haben!

Daher gilt es, den individuellen und gesellschaftlichen Freiheitsraum zurückzuerobern. Die Revolution von 1989 hat die Überwacher entmachtet, ihre Protokolle offengelegt und so die Ausgespähten aus ihrer Opferrolle befreit. Edward Snowden und andere Whistleblower, denen wir Dank und Schutz schulden, haben das Ausmaß heutiger digitaler Kontrolle offengelegt. Jetzt ist es die Aufgabe aller freiheitsliebenden Menschen, die Überwachungspraxis der Geheimdienste und der Polizeien, wie die am 19. Februar 2011,  durch den stetigen und selbstbewussten Gebrauch unserer Grundrechte zu beenden.

1 Johannes Lichdi, Handygate Dresden 2011 – Einblicke in Denken und Handeln sächsischer Ermitlungbehörden, in: «Sachsens Demokratie»? , weiterdenken, Heinrich-Böll-Stiftung in Sachsen, 2012, S.48 – 61.

2 André Meister, Funkzellenabfrage in Berlin: Jeder Hauptstadt-Bewohner war letztes Jahr 14 Mal verdächtig. In: Netzpolitik.org, 29. April 2014.

3 Marcel Rosenbach und Holger Stark, Der NSA-Komplex. Edward Snowden und der Weg in die totale Überwachung, München 2014.

4 Ilko-Sascha Kowalczuk, Stasi konkret, Überwachung und Repression in der DDR, München 2013.

5 BVerfG vom 12. März 2003, 1 BvR 330/96, Randnummer 50 und 101.

6 Sächsischer Landtag, Drucksache 5 / 6787: Bericht des Sächsischen Datenschutzbeauftragten. Bericht zu den nichtindividualisierten Funkzellenabfragen und anderen Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung durch Polizei und Staatsanwaltschaft Dresden in Bezug auf den 13., 18. und 19. Februar 2011 in Dresden. September 2011, S.30 und S.45.

7 BVerfG vom 4. April 2006, 1 BvR 518/02, Randnummer 117.

Johannes Lichdi (* 1964) ist seit 2004 Abgeordneter des Sächsischen Landtags in der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Rechtsanwalt in Dresden. Ein Schwerpunkt seiner politischen Arbeit sind die Behauptung der Grund- und Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger in der Demokratie vor der Herausforderung ausufernder staatlicher und gesellschaftlicher Überwachung. Er beteiligte sich am 19. Februar 2011 an der friedlichen Platzbesetzung gegen den Neonazi-Aufmarsch in Dresden und wurde deshalb Anfang April 2014 vom Amtsgericht Dresden wegen „Störung einer Versammlung“ verurteilt. Lichdi vertritt als Rechtsanwalt die Verfassungsbeschwerde von Katrin Göring-Eckardt, MdB, gegen die Dresdner Funkzellenabfrage vor dem Karlsruher Bundesverfassungsgericht. 

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