Derzeit verhandeln CDU und SPD über einen Koalitionsvertrag für die kommende Legislaturperiode. Auf der Agenda steht dabei auch die Innere Sicherheit. Im Zuge der Verhandlungen waren immer wieder Vorschläge von Hans-Peter Friedrich zu vernehmen, die oftmals nur ein Ziel hatten: Eine massive Ausweitung der Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden zu Lasten des Grundrechtsschutzes der Bürgerinnen und Bürger. In einem Gastbeitrag, der u.a. online bei der Frankfurter Rundschau erschienen ist, warne ich davor, die in den letzten Wochen und Monaten offenbar gewordene Überwachungsspirale weiter anzuheizen. Stattdessen müssen wir Konsequenzen aus dem derzeitigen Überwachungs- und Geheimdienstskandal ziehen, die sicherheitspolitische Agenda der vergangenen Jahre grundlegend überdenken und den Daten- und Verbraucherschutz zu einem Schwerpunkt der nächsten Legislaturperiode machen. Wie immer gilt: Über Eure Kommentare und Anregungen freue ich mich.

Konsequenzen aus dem Ausspäh-Skandal – Überwachungsgesamtrechnung neu aufmachen

von Konstantin von Notz (Grüne)

Was in den letzten Tagen aus Reihen der großkoalitionären Verhandler an Gedankenspielen das Licht der Öffentlichkeit erblickte, lässt einen, ganz besonders gilt dies für den Bereich der Innenpolitik und des Datenschutzes, Böses ahnen.

Besonders hervorgetan hat sich hier einmal mehr Bundesinnenminister Friedrich, der neuerdings vor allem immer dann besonders in Erscheinung tritt, wenn es darum geht, Bürgerrechte weiter einzuschränken und die Befugnisse der Sicherheitsbehörden massiv auszuweiten. So wurden zwischenzeitlich Überlegungen zur raschen Wiedereinführung der anlasslosen und die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht stellenden Vorratsdatenspeicherung, zur direkten Kontrolle des Internetdatenverkehrs direkt an den großen Knotenpunkten oder, wie zuletzt, zur Auswertung der im Zuge von Mauterhebungen anfallenden Daten bekannt.

Ungeachtet der derzeitigen Diskussionen um den größten Datenschutz- und Geheimdienstskandal, den die westlichen Demokratien jemals erlebt haben, vergeht kaum ein Tag, an dem sich der Innenminister nicht an irgend ein Instrument aus der konservativen Law & Order-Mottenkiste erinnert. Im Zuge der derzeitigen Verhandlungen zieht Friedrich ein daten- und verfassungsrechtlich höchst bedenkliches Vorhaben nach dem anderen aus dem Hut. Nutzung der Mautdaten für Sicherheitszwecke? Darauf hatte selbst Schäuble bei der Einführung im Jahr 2005 nicht mehr bestanden! Vorratsdatenspeicherung? Hatte das Bundesverfassungsgericht vor Jahren kassiert und in Kürze steht die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Frage an, ob dieses Instrument überhaupt mit geltendem EU-Recht vereinbar ist! Ausweitung der Datenüberwachung auf Knotenpunkte samt Zugriff durch Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern? Exakt über derartige NSA-Praktiken echauffiert sich doch gerade – vollkommen zurecht – die ganze Welt!

All das scheint Hans-Peter Friedrich nicht anzufechten. Sein Vorgehen wirkt völlig orientierungslos: Wird der Druck hinsichtlich der von ihm eingebrachten, erratischen Vorschläge zu groß, wird die eigene sicherheitspolitische Agenda schnell zu einem reinen Gedankenspiel aus der Feder irgendeines überambitionierten Referenten des BMIs ausgegeben – ohne zu sagen, wie diese Papiere eigentlich den Weg an den großkoalitionären Verhandlungstisch fanden. Diese ständige Umetikettierung eigener sicherheitspolitischer Vorschläge ist peinlich und zeigt das ganze Ausmaß der Kopflosigkeit im Bundesinnenministerium.

Das von ihm kürzlich erst ersonnene „Supergrundrecht Sicherheit“ scheint einziger Maßstab der Überlegungen des Innenministers zu sein. Eine rationale Innenpolitik auf Grundlage tatsächlicher Bedrohungsanalysen findet seit Jahren nicht statt. In seine Rolle als Verfassungsminister scheint Hans-Peter Friedrich gar nicht mehr finden zu wollen. Daran konnte auch seine neue Zuständigkeit, er ist nach dem Wegzug von Ministerin Aigner nach Bayern seit Kurzem zusätzlich u.a. auch für den Verbraucherschutz zuständig, nichts ändern. Der Bundesinnenminister macht sich immer wieder zum direkten Sprachrohr der Sicherheitsbehörden und übernimmt ihre altbekannte Sprache eins zu eins. Selbst die sicherheitspolitischen Hardliner in den Reihen der SPD, die sich ansonsten programmatisch kaum von der Union unterscheiden, aber genauso die eigenen Unionskollegen haben erkannt, dass derzeit Datenschutz und Datensicherheit die Gebote der Stunde sind, nicht Law & Order und Bürgerrechtsabbau.

Die Diskussion um die Auswertung der Mautdaten hat die ganze Konzeptlosigkeit Friedrichs noch einmal offenbart: Die – wohlgemerkt vom Gesetzgeber 2005 sehr bewusst eingezogene – strenge Zweckbindung sei „nicht mehr zeitgemäß“, so der Innenminister. Dass die Möglichkeit der Auswertung dieser Daten den Sicherheitsbehörden nicht als Instrument zur Verfügung stünde, würde die Aufklärung von „Kapitalverbrechen oder zur Abwehr von Gefahren für Leib und Leben“ massiv erschweren.

Das Vorgehensmuster ist immer das selbe: Als Legitimation für neue Befugnisse der Sicherheitsbehörden wird allein mit Einzelfällen argumentiert und ansonsten auf die Einschätzungsprärogative der Regierung gesetzt. Was bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung oder auch den sogenannten Netzsperren in den letzten Jahren immer wieder der Hinweis auf nicht verfolgbare Fälle von Kinderpornographie war, ist bei der angestrebten Öffnung der Mautdaten der sogenannte „Auto-Transporter-Fall“, bei dem der Täter über Jahre wahllos auf Verkehrsteilnehmer und ihre Fahrzeuge schoss und Personen schwer verletzte. Sicherlich ist denkbar, dass der Täter schneller gefasst worden wäre, wenn die Strafverfolgungsbehörden auf die anfallenden Daten von Toll-Collect hätten zugreifen können. Wir wissen es schlicht nicht.

Dennoch muss, und auf diesen Punkt machen wir unter Verweis auf die bemerkenswert dichte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Bereich seit Jahren aufmerksam, gerade in diesen verfassungsrechtlich hoch sensiblen Bereichen, schon der Gesetzgeber selbst stets eine Verhältnismäßigkeitsabwägung vornehmen. Nur der Innenminister verweigert sich, indem er wiederholt mit dem Einzelfall argumentiert und auf die schwierigen Fragen der Umfunktionierung ganzer Infrastrukturen zu Überwachungssystemen gar keine Antwort findet. Dabei wissen wir seit langem: Der Einzelfall ist der denkbar schlechteste Ratgeber des Gesetzgebers. Er dient ersichtlich der emotionalen „Lufthoheit“ in der Debatte, kann aber rechtlich schlicht kein alleiniger Maßstab sein. Das weiß auch Innenminister Friedrich – und hält dennoch seit Jahren an diesem höchst fragwürdigen Vorgehen fest.

Es ist völlig klar, auch Deutschland könnte das Ziel eines terroristischen Anschlages werden. Diese Gefahr ist real. Die Antwort auf die Frage, wie man dieser Gefahr begegnet aber, unterscheidet Rechtsstaaten von Unrechtsstaaten. Nicht ein Whistleblower wie Edward Snowden spielt Terroristen in die Hände, wie es gerade erneut die Chefs britischer Geheimdienste behauptet haben. Die systematische Aushebelung der verfassungsmäßig geschützten Rechte der Bürgerinnen und Bürger durch Geheimdienste tut es, denn sie delegitimiert den freiheitlich demokratischen Rechtsstaat, die Staats- und Gesellschaftsform, die Fundamentalisten so verhasst ist.

Seit dem 11. September 2001 erleben wir die ständige Ausweitung von Sicherheitsgesetzen. Damals sehr bewusst von grüner Seite eingezogene Evaluationsklauseln wurden von den folgenden Regierungen weitestgehend ignoriert. Eine tatsächliche Evaluierung der bestehenden Sicherheitsgesetze durch eine unabhängige Seite hat bis heute nicht stattgefunden. Sie wäre dringend angeraten. Stattdessen erleben wir seit Jahren eine anhaltende Ausweitung von Kompetenzen der Sicherheitsbehörden. Dass diese sich ein Stück weit verselbstständig haben und die parlamentarische Kontrolle grundlegend auf den Prüfstand gehört, wissen wir spätestens seit den jüngsten Skandalen um NSU und NSA. Die notwendigen Konsequenzen aus diesen schmerzhaften Erfahrungen zieht man bislang, das gilt auch für die jetzigen Koalitionsrunden, nicht.

Das Bundesverfassungsgericht warnt in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung vor einem „besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt“. Allein ihre Existenz, so das Bundesverfassungsgericht weiter, könne „ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorrufen“. Innenminister Friedrich will gleich mehrere Vorratsdatenspeicherungen (wieder-) einführen. Es möge sich an dieser Stelle jede und jeder prüfen, ob er sich in den letzten Tagen nicht einmal dabei erwischt hat, zu hinterfragen, ob dieser oder jener Weg der Kommunikation eigentlich (noch) sicher ist.

Das Karlsruher Bundesverfassungsgericht schrieb dem Gesetzgeber in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung eine weitere, dieser Tage viel zu wenig beachtete Mahnung ins Stammbuch: Der Gesetzgeber müsse derartige (Vorrats-) Datenspeicherungen immer im Kontext einer „Überwachungsgesamtrechnung“ beleuchten. Und käme die Vorratsdatenspeicherung, so sei das rechtsstaatlich noch hinnehmbare Maß bereits voll. Innenminister Friedrich scheint die vom Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber explizit aufgetragene Mahnung auch weiterhin ignorieren zu wollen.

Angesichts der Enthüllungen der vergangenen fünf Monate und der Gewissheit, dass uns diese Debatte noch lange begleiten wird, ist es überfällig, die vom höchsten deutschen Gericht angemahnte Überwachungsgesamtrechnung neu aufzumachen. Es wäre höchste Zeit, die eigene sicherheitspolitische Agenda grundlegend zu hinterfragen. Es wäre höchste Zeit, sich von bürgerrechtlichen Gruselstücken wie der Vorratsdatenspeicherung ein für allemal zu verabschieden. Es wäre höchste Zeit, einer immer weiter ausufernden Überwachung tatsächlich etwas entgegenzustellen, statt sich am Vorbild NSA zu orientieren und so eine Überwachungsspirale in Gang zu setzen. All dies scheinen der Innenminister, aber auch Kanzlerin Merkel, die ihren Minister bislang vollkommen weitestgehend unbeirrt walten lässt, noch immer nicht verstanden zu haben. Ihr Sicherheitsverständnis bleibt erschreckend eindimensional.

Dabei liegt der eigentliche Fall für jeden offensichtlich auf der Hand: Es geht um die Massenausspähung der Bundesbürgerinnen und -bürger, der Regierung sowie der bundesdeutschen Wirtschaft durch verbündete Nationen. In Abwehr dieser geheimdienstlichen Übergriffe müsste die Bundesregierung endlich alle Register ziehen, um der Erosion unseres Rechtsstaates Einhalt zu gebieten und der Herrschaft des Rechts wieder Geltung zu verschaffen. Stattdessen verwalten Friedrich und Merkel die Altbestände konservativer Innenpolitik und verweigern weiterhin wirksame Schutzanstrengungen. Die ganze Dimension dieses ungeheuerlichen Skandals hat die mit allem Digitalen weiter fremdelnden Bundesregierung auch fünf Monate nach Bekanntwerden der ersten Enthüllungen und trotz täglich neuer Hiobsbotschaften noch immer nicht erkannt.

Die Frage ist, welche Dimensionen der Skandal erst noch annehmen muss, damit Kanzlerin Merkel endlich versteht, dass es höchste Zeit ist, den Daten- und Verbraucherschutz zu einem Kernanliegen der nächsten Legislaturperiode zu machen und dem gesamten Grundrechtskatalog vor dem Hintergrund einer weiter zunehmenden Digitalisierung tatsächlich Geltung zu verschaffen?

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