Am 19.9. — wir berichteten — findet im Unterausschuss Neue Medien des Bundestages eine Anhörung zur Barrierefreiheit im Internet statt. Wir dokumentieren hier vorab die Antworten des eingeladenen Sachverständigens Thomas Hänsgen,  Stiftungsratsvorsitzender und Geschäftsführer von „barrierefrei kommunizieren!„. Sobald die weiteren Stellungnahmen der anderen Experten zu den Fragen der Fraktionen vollständig vorliegen, werden wir sie ebenfalls auf gruen-digital dokumentieren. Auf PDF-Dokumente wollen wir dabei gerne verzichten — warum man das tun sollte, kann man den Antworten von Thomas Hänsgen gut entnehmen. Wir nehmen dies zum Anlass, auch bei uns kritisch nachzufragen: Wenn Ihr Hinweise zur Barrierefreiheit auf gruen-digital habt, freuen wir uns sehr.

1. Barrierefreiheit ist Voraussetzung für Inklusion. Welche Potentiale bietet das Netz für Behinderte? Wo gibt es Nachbesserungsbedarf?

Das Netz bietet natürlich für Behinderte wie Nichtbehinderte zunächst die gleichen Potentiale: schnelles Abrufen digitaler Informationen, neue Kommunikationsmöglichkeiten, die Möglichkeit zu Shoppen, Onlinebanking und Vieles mehr, unabhängig von Ort und Zeit. Besonders für mobilitätseingeschränkte Menschen ist dies besonders vorteilhaft.

Der Nachbesserungsbedarf ist seit Jahren der Selbe: dazu gehört besonders die barrierefreie Aufbereitung von Informationen (z.B. PDFs). Auch die Zugänglichkeit von Kommunikationssoftware ist nicht immer gegeben, so werden z.B. immer noch rein grafische Captchas genutzt, um Spam vom realen Menschen zu unterscheiden. Passender wären hier vernünftige Spamfilter, die Captchas überflüssig machen oder der Einsatz von zusätzlichen Audiocaptchas.

Des Weiteren scheint immer wieder in Vergessenheit zu geraten, dass nicht nur das Web barrierefrei sein sollte, sondern dass auch das Intranet oder Software barrierefrei sein sollten, um eine sinnvolle Inklusion möglich zu machen. Ansonsten bekommt sowohl der blinde Arbeitnehmer Probleme mit der internen Software der Behörden oder Firmen, als auch ein körperbehinderter Schüler, wenn nicht barrierefreie Lernsoftware im Unterricht eingesetzt wird. Hier besteht ein enormer Nachbesserungsbedarf!

2. In Kürze wird die Notifizierung des Entwurfs der Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) abgeschlossen. Wird diese Menschen mit Behinderung umfassend gerecht? Wie bewerten Sie die UN-Behindertenkonvention im Hinblick auf ein barrierefreies Internet?

Die BITV 2.0 wird auf jeden Fall ein großer Schritt in Richtung einer zeitgemäßen Barrierefreiheit sein, da die bisherige BITV sehr veraltet ist. Der Fokus hat sich von bestimmten Programmiersprachen und Softwarelösungen hin zu den vier Prinzipien Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit, Robustheit verschoben. Weiterhin nimmt Einfache Sprache einen größeren Platz ein als bisher und auch Gebärdensprache wird in größerem Maße thematisiert. Das ist gut, jedoch wird es immer Menschen geben, denen diese BITV nicht gerecht werden kann. Barrierefreiheit ist eine Vision, bisher haben wir es im besten Falle mit barrierearmen Angeboten zu tun.

Weiterhin gilt die BITV nur für die Einrichtungen des Bundes, zwar ziehen die Länder erfahrungsgemäß nach, jedoch bleibt die BITV für andere öffentliche Einrichtungen wie z.B. Schulen, Volkshochschulen oder für gewerbliche Webseiten nicht bindend. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn die BITV mindestens für alle öffentlichen Institutionen bindend wäre.

Ich würde jedoch gerne eine weitere Frage gestellt wissen: Wie ist ein barrierefreies Internet im Hinblick auf die UN Behindertenrechtskonvention zu beurteilen? Ich stelle hier die These auf, dass ein nicht barrierefreier Internetauftritt der UN-Konvention widerspricht, da er Zugänglichkeit und damit gesellschaftliche Teilhabe vereitelt.

3. Zum Thema Qualifizierung von Menschen mit Behinderung im Umgang mit dem Internet:  Wie sieht das Angebot derzeit aus, wo bestehen Lücken, können Sie uns Best-practise-Beispiele empfehlen? Welche Chancen bieten sich für Menschen mit Behinderung, um durch das Internet den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu finden? Welche zusätzlichen Anstrengungen sind notwendig um die bestehenden Möglichkeiten auszubauen?

Zunächst benötigen die meisten Menschen mit Behinderung keine spezielle Schulung im Umgang mit dem Internet. Ganz im Gegenteil ist die Onlinebeteiligung von Menschen mit Behinderung überproportional einzustufen. Die Probleme liegen an anderer Stelle: z.B. die richtigen unterstützenden Computertechnologien zu erhalten, um den Computer adäquat bedienen zu können.

Eine Gruppe, die bisher wenig Unterstützung erfahren hat, sind Menschen mit geistiger Behinderung und Leseschwierigkeiten. Hier werden zusätzliche Schulungen und Schulungsmaterial benötigt, die auf die erforderlichen Ansprüche angemessen eingehen. Dies gilt besonders für Themen wie z.B. Sicherheit im Internet und Datenschutz.

Ein schönes Best-Practise-Beispiel ist: www.on-line-on.eu. Ein mit EU-Mitteln gefördertes Projekt, das Online-Kurse anbietet, in denen Menschen mit geistiger Behinderung Wissen zu Computer und Internet vermittelt bekommen.

Zunächst bietet das Internet auch bei der Jobsuche dieselben Chancen für Behinderte, wie für Nichtbehinderte. Natürlich ist die Onlinerecherche zu Jobangebote für Menschen mit Behinderung genauso wichtig wie für Menschen ohne Behinderung. Um hier den Zugang für möglichst alle zu gewährleisten, wäre es wichtig, dass Onlinejobbörsen der BITV oder der WCAG entsprechen.

4. Welche Fortschritte haben die Unternehmen in der Vergangenheit gemacht und welche positiven Impulse wurden erbracht, um Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren?

Kann ich leider nicht beantworten

5. Wie hat sich das Angebot von Homepages in qualitativer und quantitativer Hinsicht verändert? Welche Erwartungen und welche Schwierigkeiten haben Menschen mit Behinderung bei der Nutzung des Internets? Welche Vorstellungen haben Menschen mit Behinderungen vom Internet? Inwiefern ist das Angebot im Internet für sie „begrenzt“ durch Nichtzugänglichkeit?

Die meisten Internetangebote sind im Laufe der Jahre weitaus komplexer geworden, als in der Anfangszeit des Internet. Die Nutzer haben inzwischen den Anspruch jegliche Informationen über das Internet zu erhalten, konkrete Kontakte zu knüpfen, Formulare zu finden und (barrierefrei) ausfüllen zu können, Termine online zu buchen, usw. Die Interaktion mit dem Internet hat zugenommen. Dies gilt sowohl für Behinderte, als auch für Nichtbehinderte. Je komplexer das Angebot ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von existierenden Barrieren für Menschen mit Behinderungen. Jedoch sind Barrieren auf komplexen Seiten nicht unvermeidbar. Der beste Weg ist, schon bei der Erstellung und bei der Pflege von Webseiten auf Barrierefreiheit zu achten. Hier fehlt es oft an genügend Aufmerksamkeit der Auftraggeber und Programmierer. So sind z.B. die Ministeriumsseiten inzwischen erfreulicherweise meist vorbildhaft in Bezug auf Barrierefreiheit, da hier die ausführenden Agenturen wissen, dass auf Barrierefreiheit zu achten ist.

6. Wie bewerten Sie den Stand der Aufarbeitung von staatlichen Dokumenten durch öffentliche Stellen hinsichtlich der Barrierefreiheit? Können Sie neuere Verfahren und offene Dateiformate empfehlen, mit denen das Aufwändige Nachbearbeiten von Hand leichter und kostengünstiger zu realisieren ist, so dass eine leichtere Teilhabe an der politischen Meinungsbildung und –äußerung möglich wird?

Hier stehen die PDF-Dokumente im Mittelpunkt. Laut der bisherigen BITV sind diese prinzipiell nicht barrierefrei, egal wie sie aufbereitet sind. Daher müsste theoretisch für alle PDFs eine Alternative, z.B. als rtf- oder HTML-Version, geboten werden. Allerdings hat sich im Bereich der PDF-Produktion sehr viel geändert, so dass durchaus Dokumente erstellt werden können, die z.B. auch für Blinde zugänglich sind. Daher wird in der neuen BITV das PDF nicht mehr kategorisch ausgeschlossen. Da bei der Erstellung von PDFs über Jahre keine Rücksicht auf Barrierefreiheit genommen wurde, kursieren nun große Mengen an „Altlasten“ im Netz. Diese können nur mit Hilfe von Handarbeit, mit vergleichsweise hohem Zeitaufwand, barrierefrei umgestaltet werden. Leider gibt es immer noch keine Software, die eine nachträgliche Änderung ohne großen Aufwand durchführen könnte.

Neue PDFs lassen sich relativ einfach barrierefrei erstellen, sofern bereits die Ursprungsdokumente (Microsoft-Office, oder Open Office, möglich ist es hier mit beiden) barrierefrei gestaltet werden. Das bedeutet, dass man z.B. Überschriften als Überschriften definiert, Bilder mit Alternativtext ausstattet usw. Anschließend kann mit einem möglichst neuen PDF-Konverter das PDF erstellt werden. Hier ist Adobe Acrobat ab Version 7 m.E. der beste mit den meisten Tools für Barrierefreiheit.

Also: keine neue Software beschenkt uns mit barrierefreien Dokumenten. Dagegen müssen die Redaktionen der Webseiten und die Autoren der Artikel aufgeklärt und geschult werden, damit Dokumente direkt barrierefrei erstellt werden. Barrierefreiheit vom ersten Schritt an mitgedacht, ist immer die einfachere, preisgünstigere Lösung.

7. Welche Möglichkeiten und welche Probleme bieten die neuesten mobilen Zugangsgeräte zum Internet für die Verbesserung der Barrierefreiheit. Wie barrierefrei sind Multitouch-Technologien und spezielle Apps, die bei den neuesten Smartphones und Tablets die Regel sind.

Derartige Technologien bieten andere Wege des Zugangs, die durchaus positiv zu bewerten sind. Multitouchoberflächen werden im Bereich der unterstützenden Kommunikation schon seit Jahren eingesetzt. Das Positive an der aktuellen Entwicklung ist, dass diese Geräte nun preisgünstiger werden und nichtmehr nur mit einer Kostenübernahme zu erwerben sind. Interessanterweise haben sich Multitouch-Anwendungen wie beim iPhone oder beim iPad als verhältnismäßig barrierefrei herausgestellt. So gibt es beim iPhone die Möglichkeit, Inhalte vorlesen zu lassen. Somit können blinde Menschen das iPhone auch ohne teure Zusatzsoftware verhältnismäßig gut nutzen. Auch im Bereich der Apps gibt es preisgünstige Varianten, die die Barrierefreiheit erhöhen können. Bedauerlicherweise sind viele Anwendungen aus dem englischen Sprachraum und ohne deutsche Übersetzung, was die Barrierefreiheit wiederum einschränkt.

Aber Multitouch ist natürlich nicht für alle Menschen die Lösung. Daher ist bei neuen Produkten wichtig, dass es standardisierte, offene Schnittstellen gibt, so dass unterstützende Technologien ohne Probleme angeschlossen, bzw. installiert werden können.

8. Halten Sie rechtliche Anpassungen der Mediengesetzte der Länder nötig, um Barrierefreiheit stärker zu verankern, und wenn ja, welche Regelungen schlagen Sie vor?

Ein Punkt, bei dem Deutschland vielen Ländern hinterherhinkt, ist die Tatsache, dass das Programm der Öffentlich-Rechtlichen nicht barrierefrei dargestellt wird. Interessanterweise werden z.B. in einem armen Land wie Afghanistan die Nachrichten parallel in Gebärdensprache übersetzt, in Deutschland ist dies nicht der Fall. Bei der Untertitelung sieht es etwas besser aus, so wird z.B. die Tagesschau um 20.00 Uhr untertitelt. Eine verbindliche rechtliche Anpassung dergestalt, dass alle Angebote der Öffentlich-Rechtlichen barrierefrei sein müssen, würde zu einem erfreulichen Ergebnis führen und ggf. sogar das Angebot der Privaten Sender langfristig beeinflussen.

Im neuen Rundfunkgesetzt steht:

„Finanziell leistungsfähige Menschen mit Behinderungen haben einen ermäßigten Beitrag in Höhe von einem Drittel des Rundfunkbeitrages zu entrichten, sofern sie nicht einen Befreiungsgrund geltend machen können. Damit kann die Finanzierung barrierefreier Angebote erleichtert werden.“

(http://www.rlp.de/einzelansicht/archive/2010/june/article/einfacheres-und-gerechteres-rundfunkfinanzierungsmodell/)

Diese Formulierung für die Erstellung barrierefreier Angebote ist eindeutig zu weich ausgefallen, so wird keine Grundlage für eine Verbesserung der Teilhabe geschaffen!

Besser wäre hier eine verbindliche Formulierung bezüglich der Barrierefreiheit der Angebote, dafür aber den vollen GEZ-Betrag für finanziell leistungsfähige Menschen mit Behinderung. Diese haben wenig von einer Ermäßigung des Beitrags aber viel von der Zugänglichkeit der Angebote.

9. Wie bewerten Sie den aktuellen deutschen und internationalen Stand der Forschung zur Barrierefreiheit im Internet? Wo sehen Sie Verbesserungsmöglichkeiten in der internationalen Vernetzung gerade auch was nachhaltige Standards zur barrierefreien Kommunikation angeht? Welche Kooperationen zwischen Wissenschaft und zivilgesellschaftlichen Institutionen wünschen Sie in Zukunft?

International gesehen ist das World Wide Web-Consortium (W3C) die führende Stelle bezüglich Barrierefreiheit. Es hat mit den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0 weltweit zukunftsweisende Richtlinien zusammengestellt, die auch für die deutsche BITV 2.0 als Grundlagen dienten. Die internationale Vernetzung auf diesem Feld funktioniert.

Die eigentlichen Probleme hinsichtlich einer verbesserten Umsetzung der Barrierefreiheit sind zum einen fehlende Vorgaben bezüglich Webseiten oder Software für das Intranet, Onlinelernangeboten etc. die in öffentlichen Institutionen eingesetzt werden. Hier gibt es kein Gesetz, welches regelt, dass z.B. Schulen barrierefreie Webangebote oder barrierefreie Software nutzen müssen.

Ferner ist der Entwurf der BITV 2.0 immer noch nicht rechtskräftig. Seit ca. 2 Jahren ist der Entwurf fertig und wartet auf seine Verabschiedung. Alle halbe Jahre wird Besserung versprochen, aber aus unersichtlichen Gründen geschieht nichts.

Kurz zusammengefasst: der Stand der Forschung ist ein sehr guter, Nachbesserungen sind im politischen Bereich wünschenswert. Außerdem ist immer noch vielen Menschen nicht bewusst, was Barrierefreiheit bedeutet. Daher sollten weiterhin Angebote zur Aufklärungsarbeit und Schulungs- bzw. Beratungsangebote bezüglich Barrierefreiheit von Inter- und Intranet sowie Software gefördert werden.

10. Auf welche Art und Weise kann die Internetkommunikation mehr Barrierefreiheit im physischen Raum ermöglichen? Wo liegen die Chancen und Grenzen von Projekten wie z.B. wheelmap.org, durch welche die Zugänglichkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln kartiert werden und wie sollten entsprechende Projekte in Zukunft gefördert werden?

Beispiele für eine größere Barrierefreiheit im physischen Raum mit Hilfe der Internetkommunikation gibt es viele. Alleine die Tatsache, dass die öffentlichen Verkehrsbetriebe im Internet vermerken, wo Fahrstühle bereit stehen und welche Straßenbahnen Niedrigflurbahnen sind, etc. vergrößern die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen. Die Berliner Verkehrsbetriebe haben z. B. eine Suchmaske, die gezielt nach einer barrierefreien Verbindung sucht.

Das Projekt www.wheelmap.org ist auf jeden Fall ein besonders erwähnenswertes Projekt. Zum einen kartiert es nicht nur Verkehrsbetriebe, sondern bietet die Möglichkeit mit Hilfe eines einfachen Ampelsystem jeglichen Ort zu kartieren und hinsichtlich der Barrierefreiheit zu bewerten (z.B. Behörden, Banken, Postämter, Restaurants, Museen, touristisch interessante Orte). Zum anderen ist es ein Projekt, das ohne eine öffentliche Förderung entstanden ist und von der Mitarbeit von Freiwilligen in der ganzen Welt profitiert. Damit ist eine Nachhaltigkeit dieses Projektes sehr wahrscheinlich. In Zukunft sollte jedoch daran gearbeitet werden, dass die Eintragungen der Freiwilligen nachkontrolliert werden, um die Zuverlässigkeit der Angaben zu erhöhen.

Ein weiteres positives Projekt ist die Datenbank Mobidat (www.mobidat.net). Sie hat 2009 eine silberne Biene, einen Preis für barrierefreie Programmierung, bekommen. Hier sind verschiedenste Einrichtungen gelistet, die von Mitarbeiter/innen von Mobidat auf ihre Barrierefreiheit geprüft wurden. Dabei wird auf die Barrierefreiheit für Menschen mit verschiedenen Behinderungen geachtet, nicht nur für Menschen mit Körperbehinderung.

Projekte dieser Art sollten auf jeden Fall auch dauerhaft weitergefördert werden. Es ist bedauerlich, wenn solche Datenbanken veralten, weil Projektförderungen auslaufen.

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