„Bürgerbeteiligung zwischen Volksentscheid und Liquid Democracy – Wie kommt der Diskurs in die Demokratie?“ – Unter diesem Titel fand am 4. Juli 2011 ein Fachgespräch der Grünen im bayerischen Landtag statt. Über die Einladung durch die innenpolitische Sprecherin der Fraktion, Susanna Tausendfreund, hatten wir hier auf gruen-digital.de bereits im Vorfeld hingewiesen. Tobias Hößl von den bayerischen Grünen berichtet:

Bei den Fachgespräch ging es konkret um zwei Verfahren der politischen BürgerInnenpartizipation: das bereits im Titel der Veranstaltung erwähnte Liquid Democracy, sowie die Planungszelle. Für die Planungszelle sprach dabei der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Lietzmann, der an der Universität Wuppertal die Forschungsstelle Bürgerbeteiligung leitet, für Liquid Democracy (bzw. das Adhocracy-Tool) Daniel Reichert vom Liquid Democracy e.V..

Beide sehen die gegenwärtige repräsentative Demokratie in einer Legitimationskrise, die mehr BürgerInnenbeteiligung nötig mache – Reichert stellte dabei vor allem die revolutionären neuen Möglichkeiten, die sich durch das Internet böten in den Vordergrund, Lietzmann spannte den Bogen weiter auf und sieht eine neue Stufe im nun etwa 150 Jahre währenden ständigen Wandel der repräsentativen Demokratie, bei dem die etablierten Machtträger den neu hinzukommenden regelmäßig argwöhnisch gegenüber traten.

Dass heute so intensiv über BürgerInnenbeteiligung diskutiert werde, habe vor allem zwei Gründe: durch die Möglichkeiten der modernen Wissensgesellschaft könne sich heute jede in kurzer Zeit in ein Thema einlesen und sich eine eigene Meinung bilden – wodurch fast zwangsweise der Glaube daran verloren gehe, dass eine nur alle 4-5 Jahre gewählte Repräsentantin so viel bessere Entscheidungen treffen könnte. Zum anderen gebe es aber wegen der hoch vernetzten Welt keine wirklich sicheren Entscheidungen mehr – vorhersagbare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge seien passé, jede Entscheidung letztlich eine Wette mit Risiken. Die Entscheidung darüber, welche Risiken eine Gesellschaft einzugehen bereit ist, könnten die Bürgerinnen selbst besser treffen als gewählte Repräsentanten. Nicht zuletzt hätten insbesondere Parteien besondere Probleme damit, dieser Form der riskanten Entscheidungen gerecht zu werden – denn wo die Ergebnisse des Handelns immer häufiger unvorhersehbar sind, müsse man umso häufiger auch getroffene Entscheidungen später revidieren – für Parteien eine schwierige Situation.

Die Planungszelle, die im englischen Raum mal „Citizens‘ jury“, mal „Citizen Assemblies“ heißt, ist ein projektbezogenes Verfahren zur Entscheidungsfindung, das in den 70er-Jahren von Peter C. Dienel entwickelt wurde, laut Lietzmann aber gerade in jüngster Zeit stark im Aufwind sei. Eine ausführliche Analyse von Dienel zur Planungszelle gibt es beispielsweise hier.


Zu einem gegebenen Thema (als Beispiele nannte Lietzmann unter anderem Projekte zur Ausarbeitung von Richtlinien einer altersgerechten Gesellschaft in Rheinland-Pfalz sowie die Trassenführung beim Bau einer Straße) werden dabei zunächst mehrere Gruppen zufällig ausgewählter BürgerInnen gebildet, mindestens 2 Gruppen zu je 25 Personen. Viel Aufwand wird dabei in die Sicherstellung der Zufälligkeit der Auswahl gesteckt, also insbesondere der Vermeidung von Selbstselektion: die Auswahl erfolgt zufällig über das Einwohnermeldeamt und es werden einige Anstrengungen unternommen, um den Ausgewählten die Teilnahme an dem Prozess auch zu ermöglichen: eventuell nötige Kinderbetreuung wird organisiert, Arbeitsfreistellungen beim Arbeitgeber, eine Aufwandsentschädigung gezahlt, usw.

Die Planungszelle bezieht also insbesondere auch Personengruppen ein, die keine eigenen Interessen am diskutierten Projekt haben. Die einzige Gruppe, die laut Lietzmann dabei tendenziell unterrepräsentiert sei, da für sie der Anreiz der Teilnahme zu gering ist, sind gut verdienende Selbstständige. Allerdings sei bei der Bewertung dieser Verzerrung zu berücksichtigen, dass gerade auch reguläre Wahlen höchst selektiv seien (de jure: Alter, Nationalität; de facto: sozialer Status).

In einem meist viertägigen, recht klar strukturierten Prozess sollen diese Gruppen dann unabhängig voneinander jeweils zu einer Entscheidung über das Thema kommen. Dazu wechseln klassische ExpertInnenvorträge mit Gruppendiskussionen der TeilnehmerInnen untereinander ab. Die Auswahl der referierenden ExpertInnen trifft das den Prozess organisierende Institut unter dem Gesichtspunkt, dass möglichst jede Position, die für das gegebene Thema relevant ist, mindestens einmal zur Sprache kommen sollte. Die anschließenden Gruppendiskussionen finden in durchwechselnden Fünfergruppen statt – was die Herausbildung von Meinungsführern, welche die Diskussion dominieren, verhindern soll.

Am Ende des Prozesses steht ein „Bürgergutachten“, das auf den Einschätzung der TeilnehmerInnen basiert. Qualitativ seien diese Gutachten laut Lietzman dabei meist auf sehr hohem Niveau; die teilnehmenden BürgerInnen könnten es in Sachkompetenz nach Ablauf der vier Tage üblicherweise leicht mit den politischen EntscheidungsträgerInnenn aufnehmen, ohne jedoch beeinflusst von parteipolitischen Erwägungen zu sein. Daneben entstehe bei diesem Prozess regelmäßig eine Gemeinwohlorientierung, die laut Lietzmann in anderen Gremien der Meinungsfindung so sonst kaum anzutreffen sei.

Welche Verbindlichkeit dieses Gutachten dann im weiteren politischen Verlauf hat – das ist dabei freilich die entscheidende Frage. Die Parlamente seien derzeit wohl noch eher wenig bereit, die tatsächliche Entscheidungsgewalt abzugeben. Gleichzeitig gilt aber auch hier: BürgerInnen Beteiligungsmöglichkeiten erst zu versprechen, das Votum dann aber zu ignorieren, führt mit großer Sicherheit zur Frustration. Ein Mittelweg sei, die Entscheidung der Planungszelle zwar nicht rechtlich verbindlich zu gestalten, dem zuständigen Parlament aber zumindest einen Rechtfertigungszwang für den Fall, sich anders zu entscheiden, aufzuerlegen.

In der anschließenden Diskussion wurden mehrere Aspekte der Planungszelle noch kritisch diskutiert – neben der Auswahl der ExpertInnen, bei der man letztlich einfach Vertrauen in die Objektivität des Veranstalters haben muss, ging es dabei vor allem um Möglichkeiten, mehr Verbindlichkeit für das Ergebnis eines solchen BürgerInnengutachtens zu ermöglichen (genannt wurde beispielsweise die Idee, diese Form der BürgerInnenbeteiligung ähnlich wie das Volksbegehren in die Landesverfassungen aufzunehmen), aber auch um die demokratische Legitimität eines solchen auf einer Zufallsauswahl basierenden Gremiums – hierzu gab es unterschiedliche Ansichten.

Im zweiten Teil der Veranstaltung ging es dann um Liquid Democracy und das Adhocracy-Tool. Ich entschuldige mich gleich vorab, dass ich diesen Teil deutlich kürzer behandele: während ich von der Planungszelle bis dato fast nichts wusste, waren mir Teile des Liquid Democracy-Konzepts, die Diskussionen um Liquid Feedback und Adhocracy, um Transparenz vs. Datenschutz im Rahmen der Einführung von Liquid Feedback bei der Piratenpartei usw. schon länger bekannt – und mutmaßlich auch den meisten Lesern dieses Blogs.

Daniel Reichert stellte in seinem Vortrag zunächst die Grundsätze von Liquid Democracy vor, die fließenden Übergänge zwischen basisdemokratischen und repräsentativ-demokratischen Elementen. Er stellte die Arbeit seines Vereins Liquid Democracy e.V. vor, der sich einerseits konzeptionell mit diesem Thema beschäftigt, sich aber auch für die technische Umsetzung des Adhocracy-Tools verantwortlich fühlt und Interessierte beim Einsatz desselben unterstützt. Er ging insbesondere auch auf die Arbeit der aktuellen Enquête Kommission ein, bei der es (nach einigem hin und her) durch den Einsatz von Adhocracy möglich sei, sich auf demokratie.de ein Bild von der Arbeit zu verschaffen sowie sich selbst daran zu beteiligen – wovon bislang etwa 1700 Angemeldete NutzerInnen Gebrauch gemacht hätten. Auch der Münchner MOGDy setzt beispielsweise auf Adhocracy.

Das Delegated Voting scheint bei den tatsächlichen Anwendungsgebieten von Adhocrady eine eher zweitrangige Rolle zu spielen – was zumindest insofern bemerkenswert ist, als Delegated Voting ja gerade eines der Kernkonzepte von Liquid Democracy ist. Aber es ist natürlich möglich, dass dies an der noch überschaubaren Größe der aktuellen Anwendungsgebiete liegt und mit wachsender Größe von selbst an Bedeutung gewinnt.

Des weiteren ging Daniel Reichert noch auf das Konzept der „Normenbasis“ ein, deren Einsatz verhindern soll, dass mehrere Anträge beschlossen werden, die sich in Teilen widersprechen.

Gastbeitrag von Tobias Hößl, der im Landesarbeitskreis Medien und Netzpolitik der bayerischen Grünen aktiv ist. Er bloggt auf hoessl.eu und twittert unter @TobiasHoessl.

Fotos von Isabelle Maaßen.

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